Der »Grüne Strahl« in Straßburg – eine Rauminstallation aus dem Mittelalter
Untersuchung beweist: Grünes Lichtphänomen ist kein Zufall, sondern absichtsvolle Rauminstallation aus dem Mittelalter
Bald ist es wieder soweit: Wie immer zum Frühlings- und Herbstanfang kommt es im Straßburger Liebfrauenmünster am 23. September zu einem besonderen Lichtphänomen: Um die Mittagszeit schießt ein kräftig grüner Lichtstrahl quer durch das weite Kirchenschiff. Punktgenau beleuchtet er in systematischer Abfolge einige steinerne Figuren auf der spätgotischen Münsterkanzel von 1485.
Wenn der Gekreuzigte und seine stummen Begleiter der Reihe nach hellgrün aus dem Halbdunkel auftauchen wird es zwischen den erwartungsvoll angereisten Schaulustigen meist ganz still. Und während sie schweigen, rätseln die meisten Zuschauer über den Sinn der etwa 20 Minuten dauernden Illuminierung, für die es bisher keine schlüssige Erklärung gab. Obwohl besondere Lichtphänomene bekanntlich in vielen alten religiösen Stätten zu finden sind, wollten Kirchenvertreter im Straßburger Grünen Strahl stets nur einen »Zufall« sehen.
Nun aber sorgt die erste umfassende Untersuchung zum Thema für Klarheit. Sie zeigt, dass der Straßburger Grüne Strahl eben kein Zufall ist. Vielmehr wird der Beweis erbracht, dass jenes Phänomen eine alte, bewusste Rauminstallation darstellt.
Die grüne Illuminierung muss demnach in Verbindung mit der spätgotischen Münsterkanzel gesehen werden. Wie ein Zeiger hebt der Strahl bestimmte Figuren heraus, verweist auf ihre Bedeutung und stellt Zusammenhänge her. Letztlich soll der Grüne Strahl darauf aufmerksam machen, dass der Mensch sich selber erkennen und so den Weg ins Licht (resp. zu Gott) finden kann. Der katholischen Kirche in ihrem Selbstverständnis als einzig legitimer »Kontaktstelle« zwischen Gott und den Menschen dürfte dies nicht angenehm sein.
Das alte Geheimnis des Grünen Strahls gelüftet hat der deutsche Symbolforscher und Buchautor Oliver Wießmann. Seine Forschungsergebnisse finden sich in dem profund recherchierten und exzellent gestalteten Buch »Der Grüne Strahl im Straßburger Liebfrauenmünster. Aus der Welt der Kathedralenerbauer« (Salier-Verlag, 360 Seiten, 39,90 EUR). Erstklassig illustriert bringt Wießmann darin die astronomischen, astrologischen, mystisch-religiösen, realen und freimaurerischen Hintergründe des Grünen Strahls ans Licht. Dem mittelalterlichen Weltverständnis der alten Baumeister nähert sich der Autor auf der geistesgeschichtlichen Ebene, die zum Verständnis mittelalterlicher Baukunst unabdingbar ist.
Weitere Informationen mit Downloadmöglichkeit des ersten Buchkapitels unter: der-gruene-strahl.de
Mehr über den Grünen Strahl
Jährlich zu den Tag- und Nachtgleichen illuminiert ein grüner Lichtstrahl im Straßburger Liebfrauenmünster die spätgotische Kanzel. Das grüne Licht kommt von einem der Seitenfenster, die der Kanzel gegenüber liegen. In diesem Kirchenfenster deutet König Juda mit dem Finger auf einen seiner gläsernen grünen Schuhe, während er seinen Kopf nach oben in Richtung Sonne wendet. Jenes grüne Schuhglas ist es, das den geheimnisvollen Lichtstrahl erzeugt.
Das in Frankreich heute sehr berühmte Phänomen wurde zum ersten Mal in den 1970er Jahren einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, als das Licht dem Straßburger Vermessungsingenieur Maurice Rosart aufgefallen war. Rosart vermutete im Strahl anfangs so etwas wie ein mittelalterliches Eichwerkzeug. Doch seit jener Zeit leugnen die Straßburger Kirchenoberen nachdrücklich einen bestimmten Zweck des Phänomens; man sprach offiziell stets von einem »Zufall«. Mit allerlei Tricks wurde vor Ort in den folgenden Jahren sogar versucht, die Erscheinung verschwinden zu lassen oder Besucher am Betrachten zu hindern (zum Beispiel wurde im September 2015 das Kirchenschiff für jene Minuten für Besucher gesperrt).
Über den Autor
Den Schwerpunkt von Oliver Wießmanns Symbolforschung bildet der wissenschaftlich-philosophische und religiöse Ideengehalt der Bauhütten des 13. Jahrhunderts und der Kathedralenbau. Dabei konzentriert er sich auch auf die bildstarke Mitteilungstradition einer Hermetischen Philosophie, die als »Königliche Kunst« bezeichnet wird. Zudem beschäftigt er sich mit angewandter Ästhetik und ihren handwerklichen Gesetzmäßigkeiten innerhalb der Kunst.
Als Creative Director einer Frankfurter Werbeagentur kennt Oliver Wießmann die instrumentalisierte Bildkommunikation sehr genau. Dem studierten Kommunikationsdesigner und Illustrator kommen in Arbeit und Forschung auch seine akademischen Kenntnisse der Philosophie und Literaturgeschichte zugute.
Alles zusammen versetzte ihn in die Lage, in jahrelanger Forschungsarbeit die Absicht hinter dem Grünen Strahl zu erkennen und dessen Botschaft zu erklären. Vor interessierten Laien und Fachpublikum hält Oliver Wießmann Vorträge zu seinen Forschungsschwerpunkten.
(Text + Fotos: Salier-Verlag Leipzig über ots, 11.09.2018)