Nepal nach dem Erdbeben: „Die Engpässe vor Ort sind kein Versagen“
Nepal: Was viele nicht wissen
Bergführer Peter Müermann plant als Teammitglied des Wander-Reiseanbieters wanderauszeit im Oktober 2015 wieder eine Reise nach Nepal – die nun unter völlig anderen Bedingungen stattfinden wird, als die zehn vorhergehenden Nepaltouren. Der Nepal-Experte verfolgt intensiv die aktuelle Berichterstattung und steht mit seinen Kontakten vor Ort auch während und nach der Katastrophe im engen Austausch. Im Interview schildert er, warum es wirklich so schwierig ist, in der Not zu helfen und warum die Verteilung der Hilfsgüter nur schleppend vorankommt.
Woher beziehen Sie Ihre aktuellen Informationen über die Lage in Nepal?
Wir als Team der wanderauszeit planen ja eine Herbstreise nach Nepal. Vor Ort haben wir Kooperationspartner, ohne die wir eine Reise wie diese gar nicht durchführen könnten. Mit ihnen sind wir im ständigen Austausch und versuchen momentan zu helfen, so gut es geht. Zum Glück haben unsere Partner alle das Erdbeben überlebt. Doch sie alle beklagen Tote im engsten Umfeld und haben zum Teil alles verloren.
Aus dem Westen hört man derzeit viel Kritik an der Regierung in Nepal. Wie stehen Sie dazu?
Ich sehe das etwas differenzierter. Natürlich ist die Regierung mit der aktuellen Krise überfordert. Aber die Dimensionen, in denen sich diese Katastrophe abspielt, sind von Europa aus einfach schwer zu begreifen. Bis 2006 wurde Nepal von einem König regiert, der staatliches und religiöses Oberhaupt war. Gegen ihn opponierte zehn Jahre lang die Kommunistische Partei Nepals und führte einen blutigen Bürgerkrieg, der tausende Opfer forderte. Die demokratische Mehrparteienregierung ist seit wenigen Jahren nun dabei, Demokratie erst mal zu üben. Der junge Regierungsapparat ist gerade mal so groß wie bei uns ein einzelnes Ministerium. Und sie agieren in einem Land, dessen Infrastruktur mit unserer überhaupt nicht vergleichbar ist.
Wie sieht die wirtschaftliche Lage des Landes wirklich aus?
Aktuell erfahren wir ja über die Medien, dass Nepal eines der ärmsten Länder der Welt ist. Dazu möchte ich gern ein paar Fakten beisteuern, damit die Dimensionen klarer werden: Die Einnahmen des Landes stammen zu etwa einem Drittel aus dem Tourismus, zu einem Drittel aus der Landwirtschaft und zu einem Fünftel aus Industriegütern. Hinzu kommen internationale Hilfsmittel. Nepal hat rund 26 Millionen Einwohner. Von den Erwerbstätigen arbeiten knapp 70 Prozent in der Landwirtschaft, insgesamt leben rund 40 Prozent der Nepali unterhalb der Armutsgrenze. Das durchschnittliche Jahreseinkommen liegt bei etwa 500 bis 600 US$. Nur 15 Prozent der Nepali leben in der Stadt. Auf dem Land gibt es wenig Einkommensmöglichkeiten. Dort, wo der Tourismus noch nicht vorgedrungen ist, herrscht noch eine geldlose Naturalienwirtschaft. Das heißt, Arbeit gibt es viel, aber kaum Möglichkeiten Geld zu verdienen. Die fehlende Infrastruktur in weiten Teilen des Landes bedeutet konkret für viele: keine Krankenhäuser, kein Strom, keine Wasserversorgung und keine Abwassersysteme.
Und warum ist es aktuell so schwierig, die Hilfsgüter zu verteilen?
Das Land, das etwa doppelt so groß ist wie Bayern, verfügt über ein nur sehr gering ausgebautes Straßennetz von wenigen tausend Kilometer, überwiegend ohne Asphalt. Laster kommen hier extrem langsam voran. Die beiden Bahnstrecken sind zusammen keine 60 Kilometer lang, also ohne Bedeutung. Das Haupttransportmittel sind seit Jahrhunderten Füße und Hufe. Der Warentransport erfolgt weitgehend über Träger, die pro Kopf etwa 50 Kilogramm tragen und Tragetiere, also Esel und Yaks, die asiatischen Rinder. Mit diesen beschränkten Möglichkeiten der Logistik kann sich jeder denken, wie schwierig es ist, hier Hilfsgüter im großen Umfang zu verteilen.
Wieso kann mit Flugzeugen nicht besser geholfen werden?
Neben dem internationalen Flughafen in der Hauptstadt gibt es rund 20 Kleinstflughäfen im Landesinnern, die zum Teil nur Schotterpisten haben. Alle Inlandflüge sind reine Sichtflüge, das heißt, bei Regen und Nebel kann gar nicht geflogen werden. Und im Land sind fast nur kleine Maschinen und Helikopter im Einsatz, mit denen es nicht möglich ist, kurzfristig tausende Menschen aus entlegenen Gebieten zu evakuieren.
Und in diesem Szenario kommt jetzt ein Flieger mit vielen Tonnen Hilfsgütern in Kathmandu an: Mit einem einzigen Flieger dieser Größe sind schon alle Kapazitäten des Flughafens ausgeschöpft und alle Kräfte sind mit der Weiterleitung der Hilfsgüter schlicht überfordert. Das hat nichts mir schlechter Organisation zu tun und es ist auch nicht fair, der Regierung die Schuld an diesem Engpass zu geben.
Ab Ende Mai beginnt zudem die Monsumzeit, in der durch den starken Regen das Fliegen geradezu unmöglich ist. Konkret heißt das: Was bis zu diesem Zeitpunkt nicht aufgeräumt ist, wird weggespült.
Wie kann den Menschen in Nepal geholfen werden? Was tun Sie selbst?
Uns ist es eine Herzensangelegenheit hier aufzuklären, damit die Hilfsbereitschaft nicht im Keim erstickt wird. Wir werden auf unseren nächsten Wanderterminen im Sommer Vorträge über die Lage in Nepal halten und möglichst viele Menschen informieren und für die Probleme in Nepal sensibilisieren. Denn es ist ein wunderbares Land mit liebenswerten Menschen und einer vielfältigen Kultur – die jetzt einfach die Hilfe der westlichen Welt braucht.
Außerdem haben wir einen Weg gefunden, einigen Familien direkte Hilfe zukommen zu lassen, die 100 Prozent bei den Bedürftigen ankommt: Wir unterstützen eine Mutter mit ihren zwei Töchtern, die nicht nur ihren Mann, sondern auch ihren kompletten Besitz verloren hat – und das in einem Land, in dem Mädchen häufig noch als „Last“ gewertet werden.
Mehr dazu auf der Homepage: wanderauszeit.de/nepal
Flyer zur Nepal-Hilfe von wanderauszeit.de: NepalHilfe_wanderauszeit.de
(Text: Peter Müermann und Josy Freundt / wanderauszeit.de, Fotos: Peter Müermann, 05.05.2015)
Hinweis zu den Fotos: Die Nepal-Fotos von Peter Müermann illustrieren das Leben in diesem Land vor dem Erdbeben. Die Bilder machen deutlich, wie sehr sich die Infrastruktur und der Alltag in Nepal von dem in Westeuropa schon vor der Katastrophe unterschied.